Macht es einen Unterschied, ob Kinder »Mama und Papa« sagen, oder ihre Eltern mit Vornamen ansprechen? Ist das Gefühl dazu bei Kindern und Eltern gleich? Ist das alles egal oder gibt es da noch versteckte Dinge, die es lohnt mal anzuschauen?

Vati, Papi, Papa, Pa, Dad, Alter, Erzeuger …

Bevor ich etwas schreibe, bin ich mir gerne über die Begrifflichkeiten im Klaren. Daher für alle: die beiden Elternteile eines Kind – Mutter und Vater – haben in den Sprachen der Welt diverse Kurzformen und Kosenamen. Im Deutschen kenne ich für Vater z.B. Vati, Papi, Papa, Pa, Dad, Alter, Erzeuger und einige mehr. Ähnlich Namen gibt’s auch für die Mütter: Mama, Mami, Ma, Mutti, Muttchen, Alte usw. Das Wort »Papa« gibt es laut Wiki immerhin in 71% aller Sprachen auf der Welt.

Wen oder was meinen Kinder, wenn sie Mama oder Papa sagen?

Aus der gleichen Quelle stammt auch folgendes: »Untersuchungen von Virginia Volterra im Jahre 1979 ergaben, dass die ersten Wörter eines Babys gewöhnlich noch nichts Konkretes bezeichnen. So steht der Begriff »Mama« eher für einen Aufruf oder eine Bitte als für die Mutter. Der Ausruf »Papa« kam dagegen in Situationen vor, die direkt oder indirekt mit dem Vater zu tun hatten. So beispielsweise wenn das Kind auf den Arm genommen werden wollte, was meist der Vater zuvor tat. Auch hier stand das Wort »Papa« nicht für den Vater. Volterra bestimmte eine zweite Phase, wonach der Begriff »Papa« nun auch für Vermutungen und Wünsche, die mit dem Vater zu tun haben, verwendet wird, beispielsweise wenn das Kind denkt, dass der Vater gleich ins Zimmer kommt. In der nächsten Phase wird der Begriff auf den Vater bzw. auf Situationen, die direkt mit ihm in Zusammenhang stehen, konkretisiert. In der letzten Phase verallgemeinert das Kind den Begriff »Papa«, indem es alle erwachsenen Männer so benennt.«

Vielleicht war das ja unbewusst der Grund, warum ich nicht eine Allgemeinbezeichnung zum Namen haben wollte und mich meinen Kids immer als »Tang« präsentiert habe.

Die Un-Person – wenn man sein Kind in der dritten Person anredet

Kleines Nebengleis: Ihn habe auch nie in der dritten Person mit meinen Kids gesprochen: »Der Tang geht jetzt einkaufen – wir müssen den Ray jetzt schnell anziehen, damit er draußen nicht friert!« Diese Art von Sprache fand ich immer sehr bedenklich und befremdend. Zum einen würde ich nicht wollen, dass jemand mit mir so redet – und zum anderen ist so eine Formulierung wirklich völlig unpersönlich und kopfig. Da wird von Personen, die sehr wohl anwesend sind gesprochen, als ob sie Fremde wären in irgendeiner Geschichte weit weg vom jetzigen Moment.

Blut ist dicker als Wasser

Zurück zu Mama und Papa. Ich wage mal zu behaupten, dass die emotionale Bindung von Eltern und Kindern nicht von der Namensgebung abhängt. Sie kann aber später über diese Begriffe und die dazugehörige Erinnerung wieder abgerufen werden bzw. hochkommen. So ist das mit allen Erinnerungen – guten wie schlechten. Meine Recherchen über Trennungskinder hat mir die Illusion frühzeitig geraubt, dass es mit Mutter und Vater was ganz Besonderes auf sich hat, wie z.B. die tiefe Verbindung der Blutsbande. »Blut ist dicker als Wasser«, und natürlich all die religiösen Glorifizierungen von Mutter und Vater. Mir gefällt viel eher die Vorstellung, dass wir uns unsere Eltern irgendwie ausgesucht haben und vielleicht schon vorher eine spirituelle Verbindung zu diesen Menschen besteht. Es wäre jedoch engstirnig, diese Verbindung auf zwei Personen zu beschränken. Das kann ich zwar nicht beweisen, aber es deckt sich durchaus mit meinen persönlichen Erfahrungen.

Die wichtigsten Bezugspersonen für Kinder sind nicht zwangsweise an Mamas Nabelschnur oder Papas Erzeugerstolz gebunden. Da spielt es vielmehr eine Rolle, wer uns in jüngsten Jahren seine Liebe, Aufmerksamkeit und Zeit schenkt. Diese Flexibilität schmeckt unserem Ego als Eltern vielleicht nicht so recht, aber diese Anpassungsfähigkeit ist unter anderem auch ein Grund für das erfolgreiche Überleben unserer Spezies.

Mein eigen Fleisch und Blut

Wie ist das nun mit Mutter- und Vatergefühlen wie »mein eigen Fleisch und Blut« etc.? Ich glaube, da liegt der Hund begraben für viele Eltern, die auf Mama und Papa so viel Wert legen. Denn im Grunde wäre es ja egal, welcher Name da ausgesprochen wird. Aber hier kommt die Welt der Vorstellungen und Rollen mit alle ihren bekannten Strukturen ins Spiel. Als Eltern werden wir mit einem enormen Vertrauensvorschuss seitens der Kinder beschenkt. Das gibt uns Macht und zugleich Verantwortung. Viele von uns und besonders die Generationen unserer Eltern können davon ein leidvolles Lied singen. Nicht ohne Grund haben Begriffe wie Zucht und Ordnung, Gehorsam usw. ihren Weg in die Erziehungskunst gefunden und sind nur schwer aus den Köpfen und dem täglichen Verhalten zu verbannen.

Name ist Schall und Rauch …

In Goethes Faust I, zu Beginn der zweiten Szene − Marthens Garten − stellt Margarethe an Heinrich die sprichwörtlich gewordene Gretchenfrage:

»… Nun sag. Wie hast Du’s mit der Religion?
Du bist ein herzlich guter Mann.
Allein, ich glaub, du hältst nicht viel davon?«

Faust antwortet ausweichend und liefert Gretchen einen erweiterten Gottesbegriff:

»… Nenn es dann, wie du willst,
Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut.«

Vielleicht gilt das auch für unserer Frage, denn es kommt wohl tatsächlich auf die Gefühle an, die mit der Nennung von Namen und Bezeichnungen einhergehen. Das wir uns mit Namen identifizieren ist letztlich genauso zu betrachten wie jede andere Identifikation mit äußeren Dingen: »Mein Name, mein Haus, meine Frau, mein Kind, meine Visacard …« Es ist die Bedeutung, die wir den bezeichneten Dingen und Objekten geben, die den Unterschied ausmacht – z.B. ob uns etwas wichtig oder nichtig ist.

Namen und Macht

Namen haben in vielen Kulturen und auch in unserer Gesellschaft seit Jahrhunderten auch etwas mit Macht zu tun. Schon Rumpelstilzchen wusste das. Als sein Name herausgefunden und genannt wurde, war der Bann gebrochen – die schöne Müllerstochter und neue Königin hatte nun Macht über den hässlichen Zwerg, und das riss ihn mitten entzwei – sozusagen Selbstmord aus übertriebener Namens-Identifikation.

Sind wir heute noch genauso? Schließlich überlegen junge Eltern oft monatelang, wie das Kleine nun heißen soll. Der Klang, die Bedeutung des Namens und auch der aktuelle Trend fließen in diese Entscheidung ein. Und dann verweigern wir den gleichen Kindern, uns bei unserem Namen zu nennen und legen ihnen eine – sagen wir mal – allgemeine Gattungs- und Funktionsbezeichnung in den Mund. Komisch, oder? Vielleicht wollen wir ja Macht über sie haben – aber nicht umgekehrt. Früher – nur wenige Generationen zurück – mussten die Kinder Vater und Mutter respektvoll mit »Sie« und »Ihr« sowie »Herr Vater« oder »Frau Mutter« anreden. In diesen Anreden wurden ziemlich deutlich Autorität und Machtverhältnisse innerhalb der Familie bekundet und demonstriert. Heute ist das natürlich alles anders – oder vielleicht doch nicht? Unterschwellig und unbewusst schwingt da vielleicht beim ein oder anderen noch viel mehr aus der Vergangenheit mit, als uns lieb sein mag.

Christentum und Namensgebung

Im Rahmen der Kinder- bzw. Säuglingstaufe werden heutzutage Taufe und Namensgebung oft zusammengelegt. Das war nicht immer so. Die Namensgebung durch Gott hat aber mit dem Eigennamen, den die Eltern auswählen nichts zu tun. Bei der Taufe geht es weniger um Individualisierung als viel mehr um Aufnahme in eine Gemeinschaft.

Christus sprach zu seinen Jüngern:
»… Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende …« – Matthäus 28,19-20

Und so hören wir bei jeder christlichen Taufe die Worte:
»Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes … «

Ein beliebter Taufspruch ist auch:
»… Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein …« –  Jesaja 43,1-2
Er verspricht dem Getauften von Gott gesehen zu werfen sowie Schutz und Liebe. Hier geht es nicht mehr um Unterscheidung oder Macht – sondern um  Liebe und  Fürsorge.

Meiner Lebensphilosophie entspricht es eher, den christlichen Gottesbegriff auf Alles was Ist universell zu erweitern. In diesem Fall fließt das Individuelle wieder ins große Ganze ein und wir sich dessen bewusst.  Mit dieser Erkenntnis wird die Namensfrage im Grunde wieder bedeutungslos und somit »Schall und Rauch.« Ich glaube Goethe hätte das gefallen 🙂

Du merkst sicher, dass eine Menge Einflüsse zusammenspielen, die wir mit Eigennamen verbinden oder auch nicht. Unsere Kinder sind in dieser Hinsicht zuerst mal wirklich wie unbeschriebene Blätter eines Buches. Wir dürfen daher durchaus achtsam sein, was wir ihnen dort hineinschreiben. Wenn wir unsere eigenen Gefühle anschauen, wissen wir zumindest annähernd, was auf unseren Blättern steht. So manches darf getrost gelöscht werden und braucht keine weitere Fortsetzung in die nächste Generation.

(Anregungen zu den letzten Abschnitten stammen u.a. aus dem Artikel Namen sind Schall und Rauch? von Ulla Fix – Universität Leibzig 2010)

Rumpelstilzchen, Hänseln und Greteln

Da fällt mir noch was zum Thema »Namen und Macht« ein. Was wäre eigentlich aus Rumpelstilzchen geworden, wenn es sich nicht so verrückt and seinen blöden Namen gehängt und mit ihm identifiziert hätte? Dann wäre das Märchen vielleicht so gelaufen:

»Nun Frau Königin – wie heiße ich?«
»Heißt du etwa Hinz?«- »So heiß ich nicht!«
»Heißt du etwa Kunz?« – »So heiß ich nicht!«
»Heißest Du etwa Rumpel-stilz-chen?« – dramatische Pause – lautes Lachen!
»Wow, Frau Königin – super geraten – wer hat Dir den das gesagt?«
Und das Männlein führte einen Freudentanz auf und lachte sich beinahe kaputt.

Rumpelstilzchen durfte künftig als gerngesehener Gast jederzeit ins Schoß kommen, wann immer es wollte. Es spielte mit dem kleinen Prinzen, der ihn schon bald Onkel Rumple nannte, und immer wenn der König mal wieder knapp bei Kasse war, gab’s wieder ne Fuhre Stroh in dem Keller. Den Rest kannst du dir denken 🙂

Wie du siehst: Die Machtausübung über den Namen funktioniert nur bei entsprechender Identifikation. Das sogenannte Hänseln oder Greteln klappt einfach nicht, wenn man nicht Hans oder Gretel heißt oder sich einfach nichts draus macht. Dumm gelaufen für die Hänsler. Keine Identifikation – kein Ärgern! Das gilt denke ich für alles, an das wir uns hängen und das uns dann wichtig und heilig ist. Es fängt mit Eigennamen, Körpergröße und Klamotten an und endet bei unserem gesamten Bestand an Habseligkeiten. Oft kommen wir erst durch den vollständigen oder teilweisen Verlust dieser Dinge wieder zur Besinnung auf das Wesentliche im Leben.

Ich erinnere mich noch gut an die Kinder in meiner Straße in grauer Vor-Tang’scher Zeit:

»Bernd Walter sitzt am Schalter.
Wenn mer druffdrückt, un da knallt er!«

Ich glaube, dass ich am Anfang schon beleidigt und ärgerlich war, da ich ja auch die Absicht der Hänsler hinter diesem Spruch gespürt habe. Gleichzeitig fand ich das aber auch witzig und irgendwann lief ich wohl selbst mit diesem Verslein durch die Gegend. Da war der Bann gebrochen. Mit dieser Erfahrung im Blut konnte mich auch im späteren Leben – zumindest über meinen Namen – niemand mehr ärgern, denn ich war oft viel schneller mit lustigen Varianten am Start: Tangilein, Tangelmann, Peng, u.s.w. verdarben jedem potentiellen Lustigmacher schnell den Spaß an diesem Spiel.

Ich durfte dafür mit anderen Dingen, an die ich mich gehängt hatte, meine Frustrationen und leidvollen Erfahrungen machen. Jeder kriegt da seine Lektionen.

Geburtserlebnis und die psychisch-emotionale Nabelschnur

Mütter haben durch das einzigartige Erlebnis der Geburt eine besondere Verbindung zu ihren Kindern. Das mag manchmal dazu führen, dass zwar die physische Nabelschnur durchtrennt wird, aber eine psychisch-emotionale Nabelschnur verbleibt. Diese wird in vielen Fällen – meist unbewusst – weit über das Notwendige und die angemessene Zeit hinweg von Müttern weiterhin aufrecht erhalten und fortgesetzt. Ich spreche hier nicht von der wunderbaren intuitiven Verbindung – dem guten Draht – zwischen Mutter und Kind. Dieser Verbindung darf sich gerne auf die ganze Welt ausdehnen. Ich meine hier die Etablierung einer abhängigen symbiotischen Verbindung zwischen Menschen auf psychisch-emotionaler Ebene. Wenn eine aktive Abnabelung und die damit verbundene psychische Unabhängigkeit von Mutter und Kind nicht wirklich stattfindet, hat dies fatale Folgen für alle Beteiligten und führt schnell zu Machtmissbrauch. Meist sind es die Eltern, die diese Machtbefugnisse überziehen, aber auch Kinder können zu kleinen Tyrannen werden. Es ist beinahe wie ein heiliger Zorn auf den anderen, an den ich unsichtbar gefesselt bin oder von dem ich nicht loskomme.

Ist das nicht auch Thema vieler sogenannter erwachsenen »Liebesbeziehungen«? Ich bin überzeugt, dass diese Rollenspiele bereits in der Kindheit angelegt wurden und später einfach fortgesetzt werden. Dann treffen wir – hart gesagt – als Erwachsene mit dem Verhaltensrepertoir von Kleinkindern aufeinander und führen unsere eingeübten Theaterstückchen immer wieder aufs Neue auf. Weil wir es nicht besser gelernt haben, gehen wir immer wieder abhängige symbiotische Verbindungen ein und nennen das dann Verliebtsein oder gar Liebe. Und natürlich wird die nächste Generation von Kindern ebenfalls wieder mit dem gleichen Muster versorgt und geprägt – schöner Schlamassel und ein Thema von großer gesellschaftlicher Tragweite.

Meine aller-allerbesten Freunde

Wie sehe ich meine Kinder? Als meine aller-allerbesten Freunde! Und genau so versuche ich sie auch zu behandeln. Bisher habe ich ohne Vorbehalte auch ihre aller-allerbeste Freundschaft genossen. Ich sehe keinen Grund, warum das nicht so bleiben kann, da wir kein Bedingungssystem in diese Freundschaft installiert haben. Damit ist es bedingungslose Liebe, die wir uns schenken. Ich möchte meinen Kindern zeigen, wie grandios es ist, wenn sie diese persönliche Freundschaft am besten auf die ganze Welt ausdehnen. Und zu guter Letzt sind wir noch mal bei der Frage: »Mama, Papa oder Nina und Horst?« angelangt. Wenn bedingungslose Liebe Grundlage unserer Beziehungen zueinander ist – ob zu unseren Kindern oder allen anderen Menschen und Wesen -, dann sind Namen wirklich »Schall und Rauch«. Mir persönlich fällt es etwas leichter, wenn mich meine aller-allerbesten Freunde so nennen wie auch all meine anderen Freunde. Statt »Kind« oder »Sohn« nenne ich die Jungs auch lieber bei ihren Namen.

Foto: Familie © Thomas Weiss | pixelio.de

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