Brotlose Künste

Es war einmal ein kleiner Junge mit einer großen Begabung für die Musik. Seine Eltern erlaubten ihm daher im Alter von zehn Jahren, Klavier zu lernen. Zu seinem Leidwesen nahm jedoch niemand in seiner Umgebung den Wunsch richtig ernst, sein Leben mit Musik zu verbringen. »Brotlose Künste« hieß es da nur, denn schon immer waren alle Menschen in seiner Familie, der Verwandtschaft, ja im ganzen Land, Diebe gewesen. Sich mit etwas anderem als Stehlen zu beschäftigen, galt höchstenfalls als verrücktes Hobby. Jeder identifizierte sich voll und ganz von Kindesbeinen an mit seiner Rolle als Dieb, und es war völlig normal, dass sich alle Menschen ständig gegenseitig beklauten. So hatte auch unser kleiner Freund von seinen Eltern gelernt, wie er möglichst unbeobachtet den anderen alles aus der Tasche ziehen konnte. Lustigerweise galt das Stehlen zwar als völlig normal, aber keiner mochte es gerne, wenn er selbst beklaut wurde, denn Besitz und Eigentum war den Leuten sehr wichtig. Und so klauten alle weiter, was das Zeug hielt, meistens mit der Begründung, sich nur das zurückzuholen, was ihnen eigentlich zustand. Da unser Junge keinen Weg sah, sein musikalisches Hobby zum Beruf zu machen, beschloss er stattdessen, ein Meisterdieb zu werden. Dazu verschlang er die ganze Literatur, die das Stehlen, seine Geschichte und seine Techniken wissenschaftlich untersuchte. Ja, er begann sogar ein Studium für professionelles Klauen, das er schließlich mit Bestnoten abschloss.

Die Quelle weint

Es gab da aber etwas Merkwürdiges, fast wie ein zweites Wesen tief in ihm, das bei jedem gelungenen Diebstahl zu weinen begann. Irgendwann konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten, und er fand keine richtige Freude mehr an seinen perfekten Verbrechen. Die Familie war natürlich stolz auf ihn, und er genoss überall hohes Ansehen. Heimlich aber begann er, sich wieder mit Musik zu beschäftigen und Klavier zu spielen. In diesen Momenten schien sich sein Herz zu öffnen, die Finger flogen wie durch Magie über die Tasten, und herrliche Musik entstand. Die Improvisationen entlockten ihm immer neue Melodien. Irgendwie fühlte er deutlich, dass hier etwas Wahres und Echtes aus ihm hervorsprudelte, oder besser ausgedrückt, ihn durchströmte. Er bemerkte, dass dieses wunderbare Erleben seiner eigenen Kreativität immer an den Augenblick gebunden war, und so konnte und wollte er diese Momente auch nie konservieren oder festhalten. Wozu auch, denn immer, wenn er die Tasten berührte und die Welt um sich vergaß, floss es aus dieser schier unerschöpflichen Quelle heraus direkt in seine Finger. Dagegen verblasste der fahle Geschmack von Erfolg bei einem gelungenen Raubzug völlig. Das Stehlen war wie eine Verkleidung seiner selbst, die ihm keine wirkliche Freude bereitete. Ja, im Grunde war es schon immer eine künstliche Scheinwelt gewesen, die er bisher nur nie in Frage gestellt hatte.

Der Beobachter erwacht

Er konnte nicht verhindern, dass er sich immer mehr selbst beobachtete und beim Klauen auf die Finger schaute. In solchen Augenblicken begannen ihm plötzlich die Hände zu zittern, und er konnte nicht mehr bedenkenlos zugreifen. Eine innere Stimme sagte ihm, wie verrückt diese Welt doch sei, in der sich alle bestahlen, statt sich zu beschenken. Niemand würde mehr leiden, wenn sich statt des ständigen, allgegenwärtigen Denkens an den Mangel und das, was man noch haben wollte, das Gefühl von Fülle und Großzügigkeit unter den Menschen verbreiten würde. Wenn sie bemerken würden, dass sie sich mit jedem Diebstahl selbst bestahlen, würden sicher einige, wie auch er, von diesem überflüssigen Tun ablassen wollen. So jedenfalls dachte er bei sich, und die Vorstellung an eine solche Welt erfreute sein Herz.

Meisterschenker

Ihm war natürlich klar, dass er nicht mit der Tür ins Haus fallen konnte und allen Menschen die Unsinnigkeit ihrer Stehlerei ins Gesicht schleudern durfte. Er wollte ein kluger Botschafter sein und kein Lehrmeister. So beschloss er im Stillen, ganz für sich allein, seine Diebeslaufbahn zu beenden. Stattdessen begann er, wo immer sich die Gelegenheit bot, die Menschen mit seinem Klavierspiel zu erfreuen. Dass er dafür auch etwas zurückbekam, empfand er als großes Geschenk. Damit hatte er gar nicht gerechnet. Seine Musik öffnete die Herzen und Ohren seiner Zuhörer, und so wagte er es schließlich im Kreis von Interessierten, auch immer öfter von seinen Selbstbeobachtungen und Erfahrungen zu erzählen. Zu seiner großen Freude und Überraschung war er mit seinen Ansichten über die Welt gar nicht so allein, wie er immer dachte. Und so wurde der Kreis von Menschen immer größer, die das Stehlen mit dem Schenken vertauschten. Unser Meisterdieb war zum Meisterschenker geworden.

Quelle: »Der Meisterdieb«, Kapitel 17 S.198 ff aus Momoko – von der Kunst wunschlos glücklich zu sein von B.M.Tang, Tangsworld Publishing 2007, ISBN 978-3-9811353-0-5

* * *

Wieso Meisterdieb?

Da es sich bei der Geschichte um eine Parabel handelt, hat natürlich auch das »Stehlen« seine Bedeutung. Vor lauter Kreativität, Muse und Inspiration hätte ich fast vergessen, dazu etwas zu sagen – denn nicht jeder hat »Momoko« schon gelesen.

Im Roman geht es unter anderem um das Gefühl der Unvollständigkeit, das jeder auf seine Weise zu besänftigen versucht. Das Habenwollen, der Kampf um die Energie der Anderen – in welcher Form auch immer – wird sehr oft diebisch versteckt und unter dem Deckmantel der Normalität ausgelebt. Unser alltägliches Bemühen gleicht oft einer Art Beutezug nach Anerkennung, Erfolg und Liebe. Aber auch Macht und Leiden kommen in den Schnappsack. So ziemlich alles, das unserm Verstand vorgaukelt, uns zu bereichern und zu ergänzen, weckt unser Interesse und beschäftigt uns tagein tagaus. Die Kreativität bleibt dabei auf der Strecke.

Ich weiß, mit diesem Thema kann man ein ganzes Buch füllen – was ich ja auch getan habe 🙂

Nachbetrachtung

Wer mich kennt und im vorangegangenen Text Autobiografisches erkennt – der hat völlig ins Schwarze getroffen. Mein Leben hat sich in vielen Dingen durchaus ähnlich abgespielt wie das des Meisterdiebes. Heute bin ich froh, dass ich recht früh die Kurve gekriegt habe und freue mich über jeden, der sich durch diese Geschichte ermutigt fühlt, seinem Herzen zu folgen. Ich hoffe, Du hast Verständnis dafür, dass sich diese Serie sehr stark mit dem Musisch-Künstlerischen beschäftigt. Aber mein eigenes Leben zeigt mir, wie gut es tut, das Alltägliche, die echte Lebenskunst in diesen Kunstbegriff mit aufzunehmen und zu integrieren. In diesem Sinne wünsche ich Dir viele Küsse – von Musen und allen anderen, die Dich in ihr Herz schließen wollen.

Ich freue mich über Deine Erfahrungen mit der Inspiration und den Musen. Wenn Du magst, teile Deine Geschichte mit mir und den anderen Lesern und schreib sie als Kommentar.

Foto: © Didi01 | pixelio.de

Series NavigationInspiration und Muse – 2. Die Quelle der Musen – Ursprung unserer Kreativität


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3 Responses to Inspiration und Muse – 3. Der Meisterdieb

  1. Anne Marsell sagt:

    ich kann nicht verstehen, was mit diesem „Stehlen“ gemeint ist, was wird denn gestohlen? Danke im voraus für die Aufklärung – Anne

  2. Tang sagt:

    @ Anne – Du hast natürlich vollkommen recht – die Geschichte steht im Buch in einem größeren Zusammenhang, der im Zitat natürlich gar nicht auftaucht. Herzlichen Dank für den Hinweis. Ich habe mir daher erlaubt, eine kleine Erläuterung unter der Überschrift »Wieso Meisterdieb?« ans Ende des Artikels zu stellen. Denn es gibt bestimmt noch andere Leser, denen diese Frage hochkommen wird, wenn sie »Momoko« noch nicht gelesen haben.

  3. Anne Marsell sagt:

    »… So ziemlich alles, das unserm Verstand vorgaukelt, uns zu bereichern und zu ergänzen, weckt unser Interesse und beschäftigt uns tagein tagaus. Die Kreativität bleibt dabei auf der Strecke.« – Wirklich sehr gut, kann ich nur bestätigen.

    * * *

    Erst muss diese Tatsache einem bewußt werden, bevor man daran überhaupt „arbeiten“ kann. Die Welt/die Gesellschaft wird sich wohl bald in „ihrem Aufstiegsprozess“ an andere Werte erinnern, aber bis dahin gilt es für uns alle absolut wachsam zu sein, um unsere wertvolle Zeit nicht mit den unnützen Dingen zu verschwenden, die einem der Verstand vorgaukelt. Leider ist man so sehr im Trott dieser Allgemeinpsychose (ich glaube, dass ich persönlich nicht dazu gehöre) gefangen, dass man die wichtigsten Seelenbedürfnisse nicht erkennen kann. Dazu aber dient dann dieses Buch und dieser Aufsatz.

    Ich hoffe dass dieses Thema Viele wachrüttelt. – Anne Marsell

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